New Normal Speaker
New Normal

Neuerfindung des Normalen

Nach der Corona-Pandemie wünschen sich viele Menschen echte Veränderung statt Rückkehr in alte Gewohnheiten und Strukturen. Transformation statt Turnaround. Ein Schlagwort macht die Runde: „New Normal“. Doch was heißt das für Wirtschaft und Gesellschaft?

Gewinne verdoppelt, Börsenwert erhöht: Es scheint fast so, als hätten Amazon, Apple, Facebook und Google auf die Pandemie gewartet.

Scott Galloway, Professor für Marketing an der New York University (NYU) Stern School of Business

Pandemie als Katalysator?

Mit der Corona-Pandemie hat die Digitalisierung aller Lebens- und Gesellschaftsbereiche, Industrien und Branchen weltweit einen kräftigen Schub erhalten. Und mit ihr die großen digitalen Plattform-Unternehmen. Gerne wird Corona als Digitalisierer und Innovationstreiber bezeichnet, als Katalysator eines New Normal. Aber ist Corona wirklich der ultimative Gamechanger? Und welche neue Normalität ist wünschenswert für eine gesunde, nachhaltige Zukunft?

Scott Galloway wagt eine Bestandsaufnahme. Für den Autor und Professor für Marketing an der New York University (NYU) hat die weltweite Verbreitung von COVID-19 präpandemische Trends und gesellschaftliche Verwerfungen verstärkt, die sich schon länger abgezeichnet hatten. Das Positive an der Krise: Fehlentwicklungen sind nun offensichtlicher. Nach den gewaltigen weltwirtschaftlichen Verschiebungen der vergangenen 15 Jahre durch Globalisierung und Digitalisierung sieht Galloway als dritte und jüngste epochale Entwicklung die Verteilung von Waren und Dienstleistungen ohne Umwege an die Konsumenten. Digitaler Vertrieb und straffere Lieferketten führten in Sektoren wie Gesundheit und Fitness, Medien, Kreativität und Arbeit zu geringeren Reibungsverlusten und Kosten und ermöglichten großen digitalen Playern wie Amazon und Apple, Facebook und Google – die Big Four, wie Galloway sie nennt – gerade in der Krise astronomische Gewinne.

Die wohl deutlichste Verschiebung sieht Galloway im Gesundheitsbereich. So sei z. B. Telemedizin auf dem Vormarsch, mit einem Sprung von virtuellen Arztbesuchen von 1 Prozent vor auf 30 Prozent während der Pandemie. Corona zwang auch den Bildungssektor, etwa Universitäten, in den digitalen Lehrbetrieb. Die Kosten für Universitätsbesuche überragen derweil die Lebenshaltungskosten des urbanen Durchschnittsbürgers bereits um ein Vielfaches. Die Folge: höhere Bildungsschulden, späte Familiengründung, Verarmung jüngerer Bevölkerungsschichten. Neben Gesundheit und Bildung stehen auch traditionelle Medien unter Druck. Der Medienkonsum hat sich verlagert von TV, Radio, Zeitungen und Kino hin zu Video on Demand wie Netflix & Co. Verbunden mit dem massiven Zuschauerschwund brechen die Werbeeinahmen ein.

Während Regierungen auf der ganzen Welt mit Steuergeldern Märkte und Konsum zu stützen versuchten, kamen die großen Tech-Firmen glänzend durch die Krise, verstetigten mit Abo-Modellen ihre Umsätze und trieben ihre Börsenbewertung in die Höhe. Steuern gezahlt haben sie kaum. Die Big Four rufen bereits Gegenwehr hervor, etwa in Europa: „Die Regulierer sind gefragt“, ist der NYU-Professor überzeugt. Die Monopolstellung der Digital-Giganten sieht er äußerst kritisch: Ihre Dominanz verhindere Investitionen in neue Unternehmen, bremse Innovation und verhindere sogar in manchen Wirtschaftsbereichen Jobs. Aufschwung dagegen verzeichnen Branchen, in denen keine Monopolisten herrschen, wie Biotechnologie, FinTechs, Lebensmittel, künstliche Intelligenz und Blockchain. Jobmaschinen seien vor allem kleinere Unternehmen, betont der Marketingexperte.

Erholung nach Corona: Die Schwächsten bestimmen das Tempo

Doch was muss geschehen, um nach der Pandemie eine bessere Zukunft zu schaffen und Wohlstandsgesellschaften in wachsenden Volkswirtschaften weltweit zu gewährleisten? Peter Blair Henry, Professor für Global Business & Economy an der NYU, plädiert für eine ganzheitliche und globale Reaktion auf die Pandemie und lenkt den Blick weg von der industrialisierten Welt auf die Schwellenländer. „Ob sich die globale Wirtschaft erholen wird, ist ungewiss“, konstatiert der ehemalige Berater von Ex-US-Präsident Barack Obama. Aber für Henry ist klar: „Die Weltwirtschaft wird nicht stärker wachsen als ihr schwächstes Glied.“

Anders als in den USA, die durch massives Impfen, Investitionen in die Infrastruktur und Steuererleichterungen für eine Erholung des Gesundheitssystems sorgen, die Wirtschaft ankurbeln und den Konsum befeuern, hat sich Henry zufolge das Vertrauen in Gesundheit und Wachstum weltweit noch nicht wieder eingestellt. „Die Schwellenländer sind für 60 Prozent des globalen Wachstums verantwortlich“, so der Ökonom. „Die Weltwirtschaft wird sich nur erholen, wenn diese Länder mit ihrer rasant steigenden Bevölkerungszahl die Impfquote erhöhen, die Pandemie in den Griff kriegen, ihre Gesundheitssysteme und ihre Wirtschaft stabilisieren.“

Grafik zu Schwellenländern
Grafik zu Schwellenländern
Peter Henry

Der jüngste emeritierte Dekan der Leonard N. Stern School of Business der New York University: eleVation-Keynote-Speaker Peter Henry.

Peter Henry

Der jüngste emeritierte Dekan der Leonard N. Stern School of Business der New York University: eleVation-Keynote-Speaker Peter Henry.

Der Schlüssel läge in den Städten, meint der NYU-Professor. Deren Bevölkerung werde sich bis 2030 von zwei auf vier Milliarden Menschen verdoppeln. Henry empfiehlt neben Wissenstransfer und Unterstützung bei der Herstellung von Impfstoffen insbesondere Investitionen in urbane grüne Infrastrukturen, vor allem im Wachstumsmarkt Afrika: „Darin liegt die größte Chance, Emissionen zu senken, die Erderwärmung einzudämmen, Migrationsprobleme durch solide Arbeitsplätze vor Ort zu vermeiden und vom Wachstum der Schwellenländer auch finanziell zu profitieren. Eine Win-win-Situation.“

Kommunikations-, Gesundheits-, Verkehrs- und Energieinfrastruktur, ebenso die Versorgung mit Wasser müssten ausgebaut werden, so Henry. „Wir müssen anders und größer denken, kreativer werden, auch bei der Finanzierung.“ Dazu gehörten z. B. bessere Zinssätze und steuerliche Begünstigungen für Investitionen in grüne Infrastrukturprojekte. Durch die Digitalisierung hätten Schwellenländer Entwicklungssprünge erlebt. Nun ließen sich Daten nutzen, den Gesundheits- und Verkehrssektor zu stärken und die Arbeitswelt attraktiver zu gestalten. „Wir können die zunehmende Urbanisierung nutzen, um eine bessere Welt zu schaffen.“

Ich denke, dass die Pandemie wirklich jede Gesellschaft auf die Probe gestellt hat: egal ob Gesundheitssystem, Bildungssystem, Logistik oder Digitalisierungsstand und die Fähigkeit remote zu arbeiten.

Nick Read, CEO, Vodafone Group

Eine bessere Welt werde durch Unternehmen und die kulturelle Kraft ihrer Marken mitgestaltet, erklärt Gregor Gründgens, Brand Director Marketing, Vodafone Deutschland, mit Blick auf die Verantwortung der Wirtschaft. „Unternehmen sollten eine Vorstellung davon haben, warum sie existieren“, übersetzt Gründgens das oft strapazierte Wort Purpose. Digitalisierung und der bewusste Umgang mit Daten sind für den Marketing-Chef dabei der Schlüssel, um eine lebenswerte Zukunft für alle zu ermöglichen. Digitale Tools hatten bereits in der Corona-Krise geholfen, die wirtschaftlich und menschlich schwersten Phasen zu meistern, Kontakte, Kommunikation und Geschäftsprozesse aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig wurden die guten und schlechten Seiten der digitalen Welt sichtbar: Kreativität neben kruden Verschwörungstheorien, Demokratisierung neben Disruption, Innovationen und ihre Schattenseiten, etwa hohe Energieverbräuche durch gesteigerten Datenverkehr. Auch der Gegensatz von Convenience und Datenschutz und die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich habe Corona verdeutlicht.

„Marken können diese Gegensätze auflösen“, ist sich Gründgens sicher. Voraussetzung: Unternehmen passen nicht einfach ihre analogen Strategien an die digitale Welt an, sondern denken von vorherein in digitalen Kategorien. Notwendig seien die richtigen Kanäle, um direkte Kundenbeziehungen aufzubauen und digitales Engagement mit Kunden und Partnern zu ermöglichen. Das beziehe die Skills der Mitarbeitenden mit ein. Für Gründgens sind gerade Unternehmen wie Vodafone „digitale Enabler“, die eine entsprechende Haltung benötigen: „Wir sollten stets so mit Daten arbeiten, dass ein Mehrwert für die Gesellschaft entsteht.“

Marken prägen laut Gründgens kulturelle Kontexte, formen ein Gemeinwesen mit. Sie bräuchten daher einen moralischen Kompass, um dieser Verantwortung gerecht zu werden. People & planet first lautet der erste Grundsatz eines postpandemischen Marketings, der bereits verdeutlicht, was im Mittelpunkt allen unternehmerischen Strebens stehen sollte. Gefolgt von Act, don’t tell: „Wir brauchen Storytelling, mehr noch aber Storydoing“, unterstreicht der Vodafone Marketing Director, dem es manchmal zu viele Buchstaben und zu wenig Taten sind. Transparency is the new trust macht deutlich, dass es Vertrauen braucht, um Kundendaten zu erhalten und für ein besseres Zusammenleben nutzen zu können. Auch der „Datenhunger“ der großen Plattformen bedürfe der Regulierung, ist Gründgens überzeugt. Don’t support assholes drückt drastisch aus, dass auch Werbegelder verantwortungsvoll eingesetzt werden sollten. Und Stay critical. Stay optimistic besagt, dass wir bei aller notwendigen kritischen Sichtweisen Digitalisierung grundsätzlich umarmen sollten: „Wir müssen mit den Ideen tanzen, nicht gegen sie kämpfen.“

Gregor Gründgens
Gregor Gründgens
Scott Galloway

Starbesetzung: Von Scott Galloway (rechts) über Nick Read, CEO Vodafone Group (links) war das Programm der eleVation dicht gefüllt mit hochkarätigen Speakern.

Scott Galloway

Starbesetzung: Von Scott Galloway (rechts) über Nick Read, CEO Vodafone Group (links) war das Programm der eleVation dicht gefüllt mit hochkarätigen Speakern.

„New Normal”: Das Momentum der Krise nutzen

Die Corona-Pandemie hat schonungslos wirtschaftliche Schieflagen, Infrastrukturdefizite und Digitalisierungslücken, gesellschaftliche Missstände und das Gefälle zwischen industrialisierten und Schwellenländern aufgezeigt. Corona wirkte disruptiv, führte aber auch die Vorzüge einer digitalen Gesellschaft vor Augen. Genau darin sehen die Ökonomie- und Marketingexperten eine Chance, das Momentum der Corona-Krise für die Gestaltung einer lebenswerten Zukunft für alle zu nutzen. Ein „New Normal“ stellt dabei den Menschen in den Mittelpunkt. Digitale Technologien sind Teil der Lösung. Sie machen es möglich, dass neben Wachstum und Wohlstand Begriffe wie Nachhaltigkeit, Inklusion und Generationengerechtigkeit in den Fokus treten.

„New Normal” bedeutet mehr als Homeoffice, Kollaborationstools und Videokonferenzen. „New Normal“, das machen die Sichtweisen der Experten deutlich, heißt auch ein Wissenstransfer und Unterstützung bei der globalen Pandemiebekämpfung mit digitalen Mitteln, eine Regulierung großer Plattformen und die Verhinderung von Monopolbildung. „New Normal“ setzt auf eine transparente, vertrauensbildende Erhebung und datenschutzkonforme Handhabung von Daten. Das erfordert auch digitale Bildung, ein Verständnis dafür, wie Algorithmen unser Zusammenleben verbessern oder wie wir Information von Desinformation unterscheiden können. Unternehmen und Marken sind dabei kulturelle Treiber der gesellschaftlichen Transformation. In den Unternehmen umfasst „New Normal“ die Art und Weise, wie Innovation und Produktentwicklung betrieben bzw. Marketing- und Vertriebsstrategien entwickelt werden. Auch die Mitarbeitenden denken und handeln in digitalen Kategorien.

Grundlage des digitalen „New Normal“ sind stabile hochleistungsfähige und intelligente Netze auf Basis einer ressourcenschonenden, klimaneutralen Energieversorgung. Der Fokus künftiger Investitionen sollte daher auf digitalen und grünen Infrastrukturen insbesondere in Schwellenländern liegen, die nicht nur Wachstumsmärkte darstellen, sondern auch einen mächtigen Hebel im Kampf gegen die Klimakrise. Letztlich heißt „New Normal“ auch, mit Mut und Optimismus den digitalen Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten.