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Unbelievable bei Netflix: Die wahre Geschichte hinter der Serie
Die neue Serie Unbelievable erzählt die wahre Geschichte des Opfers einer brutalen Vergewaltigungsserie, das der Falschaussage bezichtigt und dafür sogar vor Gericht gestellt wird.
Bei uns erfährst du alle Infos über die wahren Begebenheiten hinter der schockierenden Netflix-Serie. Sie erzählt eine Geschichte über unsagbares Trauma und himmelschreiendes Unrecht.
„Selbst Menschen, denen du vertraust … wenn die Wahrheit zu unbequem ist, glauben sie dir nicht”, erklärt das 18-jährige Vergewaltigungsopfer seiner Therapeutin in einer Sitzung. Das Opfer, das ist Marie (Kaitlyn Dever): Etwa 1,60 zusammengekauerte Meter, rundes Gesicht mit Sommersprossen und den derzeit traurigsten Teenie-Augen auf Netflix.
Im neuen Krimidrama Unbelievable, das auf wahren Begebenheiten beruht, verkörpert sie eines der bedauernswertesten Opfer der US-amerikanischen Kriminalgeschichte. Die junge Frau wurde nicht nur zum Opfer eines eiskalten und brutalen Serienvergewaltigers, sondern auch noch zum Kollateralschaden undenkbar schlampiger Ermittlungsarbeiten.
Schlampig genug sogar, um daraus einen schockierenden True Crime-Artikel zu stricken, der 2015 prompt mit einem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wird. Seine ursprüngliche Artikel-Vorlage namens An Unbelievable Story of Rape (2015) verdankt Netflix dem Autorenteam T. Christian Miller und Ken Armstrong.
Sie arbeiteten den Fall außerdem auch noch im True Crime-Buch Falschaussage: Eine wahre Geschichte (2019) auf. Buch, Artikel und Netflix-Serie erzählen gleichermaßen die Geschichte eines Opfers, das „von vornherein behandelt wird wie eine Verdächtige”, wie Marie-Darstellerin Kaitlyn Dever es im Netflix-Feature Unbelievable: An Inside Look treffend auf den Punkt bringt.
Triggerwarnung: Missbrauch & Mobbing
Wir haben uns in diesem Fall entschieden, über die Themen Vergewaltigung und Mobbing zu berichten.
Bei Menschen, die mit ähnlichen Ereignissen und Problemen zu kämpfen haben, können durch Berichte dieser Art starke Angst- und Panikgefühle oder selbstverletzendes Verhalten hervorgerufen werden. Möglicherweise ist dieser Artikel darum nicht der richtige für dich.
Hilfe findest du rund um die Uhr anonym beim Hilfetelefon unter der Nummer 08000 116 016 oder bei der Telefonseelsorge unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222.
Netflix’ Unbelievable - die Handlung: Eine Vergewaltigungsserie, vier Opfer, zwei Cops
Das Pflegekind Marie Adler (Kaitlyn Dever) wurde sein Leben lang von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht. Mittlerweile lebt die 18-Jährige in einer Unterkunft für Betreutes Wohnen für Risikojugendliche im US-Bundesstaat Colorado. Eines morgens ruft Marie die Polizei.
Sie gibt zu Protokoll, in der letzten Nacht in ihrem Zimmer mit vorgehaltener Waffe von einem Unbekannten gefesselt, geknebelt und vergewaltigt worden zu sein. Die zuständigen Ermittler reagieren schnell skeptisch.
Sogar ihre ehemaligen Pflegemütter (Elizabeth Marvel, Bridget Everett) glauben nicht an Maries Bericht, vermuten, das vernachlässigte Teenager-Mädchen wolle mit seiner Geschichte Aufmerksamkeit und Zuwendung generieren. Voreilig stufen die Behörden Maries Geschichte als unglaubwürdig ein.
Völlig verunsichert widerruft Marie daraufhin ihre Aussage und räumt ein, den Überfall und die Vergewaltigung erfunden zu haben. Schon bald gilt das Mädchen innerhalb seiner Gemeinde als Persona non grata und wird dann auch noch wegen Falschaussage vor Gericht gestellt …
Hunderte Kilometer entfernt beginnen währenddessen die beiden Ermittlerinnen Karen DuVall (Merritt Weaver) und Grace Rasmussen (Toni Colette) prägnante Gemeinsamkeiten und Verbindungen zwischen einer Serie von sehr ähnlichen Vergewaltigungsfällen zu identifizieren.
Bald schon sind sie sich sicher: Es handelt sich um ein und denselben Täter, der eine perfide Taktik verfolgt und so den Behörden immer einen Schritt voraus zu sein scheint .…
Unbelievable: Die wahre Geschichte hinter der Serie
Netflix’ neues Vergewaltigungsdrama fasst harte Themen an, vergisst darüber aber nie, Maries Geschichte nach wahren Begebenheiten mit äußerster Sensibilität aus der Perspektive eines doppelten Opfers zu erzählen.
Dabei orientiert sich die True Crime-Serie stark an den Hintergründen, Fakten und Berichten aus dem preisgekrönten Artikel An Unbelievable Story of Rape der gemeinnützigen Nachrichtenorganisationen The Marshall Project und ProPublica, die sich mit ihren Veröffentlichungen für investigativen Journalismus einsetzen.
Dabei handelt es sich um einen erschreckenden Enthüllungsbericht auf höchstem Niveau, eine wahre Fleißarbeit mit Feingefühl und viel Liebe zum Detail.
Letzteres wirkt beinahe wie eine versuchte Wiedergutmachung für all die Details, die den damaligen Ermittlern im Fall einer brutalen Vergewaltigungsserie zwischen 2008 und 2011 entgingen. Auch die Netflix-Serie orientiert sich stark an den Fakten aus Artikel und Buch und verzichtet auf künstlerische Freiheiten.
Das Opfer: Die echte Marie Adler- verstoßen, vergewaltigt, angeklagt
Wer sich Unbelievable zu Gemüte führt, dem mag es bei all dem Unglück schwer fallen zu glauben, dass es zuvor auch glückliche Tage im Leben des verstoßenen Teenagers Marie Adler gab.
In An Unbelievable Story of Rape ist Marie, deren voller Name nicht bekannt ist, sich sicher: Ihre bis dato glücklichsten Tage erlebte sie während ihrer 16. und 17. Lebensjahre.
Einige davon hat sie mit ihrer besten Freundin verbracht. Beide gehen gern zur Schule, begeistern sich für Wandern, die Natur und die Fotografie. Marie wörtlich:
Wir verbrachten Stunden am Strand und sahen uns den Sonnenuntergang an. Das war eine meiner liebsten Beschäftigungen. Es gab ein bestimmtes Foto davon, was mir gefiel. Wir gingen zum Meer, es war ungefähr 18:00 Uhr abends. Ich weiß nicht, was wir uns dabei dachten, aber wir gingen einfach spontan ins Wasser (…)
Auch in der Netflixserie findet das Foto in Maries Gedanken immer wieder Platz - die Erinnerungen an glücklichere Zeiten. Ihre Kindheit hatte nicht dazu gehört.
Maries Kindheit: Pflegefamilien, Antidepressiva und Hundefutter
Im distanzierten Bericht eines Psychologen, mit dem Marie innerhalb der folgenden Ermittlungsarbeiten spricht, heißt es:
Sie weiß nicht, ob sie einen Kindergarten besucht hat. Sie erinnert sich, hungrig gewesen zu sein und Hundefutter gegessen zu haben. Sie gibt an, im Alter von sechs oder sieben Jahren in die erste Pflegefamilie gegeben worden zu sein.
Aus dieser Situation ergibt sich für Marie ein insgesamt rastloses Leben. Woran sie sich statt Kindergarten und elterlicher Zuwendung erinnert?
Zahlreiche Umzüge, 10 bis 11 Pflegefamilien, eine erste Abhängigkeit vom Medikament Zoloft, einem starken Antidepressivum. Im zarten Alter von acht Jahren hatte Marie erstmals eine Sucht entwickelt. Kein Wunder, wenn man die spärlichen Informationen aus dem Bericht über ihre leiblichen Eltern überblickt:
Sie traf ihren leiblichen Vater nur einmal. Sie berichtet, dass sie nicht viel über ihre leibliche Mutter weiß, von der Marie sagte, dass sie sie oft in der Obhut von Freunden gelassen habe. Sie wurde sexuell und körperlich missbraucht.
Erwachsene Betreuer und Fachkräfte gingen in ihrem Leben ein und aus. Es gab einige belastende oder missbräuchliche Erfahrungen und es herrschte ein allgemeiner Mangel an Beständigkeit.
Maries 18. Geburtstag: Der Flug vor dem Fall
Trotz allem, was Marie bis ins Teenager-Alter hatte durchmachen müssen, geht aus An Unbelievable Story of Rape deutlich hervor, dass sich die 18-Jährige absolut nicht zu einem unberechenbaren Problemkind entwickelt hatte. Eine einstige Pflegemutter namens Shannon erinnert sich, dass Marie trotz ihres harten Schicksals „niemals verbittert” gewesen sei.
Man habe viel zusammen gespaßt und gelacht. Marie pflegte ihre Kontakte zu früheren Pflegefamilien. Sie war bestens in der Lage, vernünftige Gespräche mit Erwachsenen führen. Sie musste nie dazu gedrängt werden, zur Schule zu gehen.
Im Frühjahr rund um ihren 18. Geburtstag hat Marie die permanent wechselnden Pflegefamilien allerdings endgültig satt. In einem sozialen Projekt namens Project Ladder nimmt man sie im Örtchen Lynnwood unter seine Fittiche. Das Programm soll jungen Erwachsenen, die in Heimen und Pflegefamilien aufwuchsen, helfen, ein selbstständiges Leben zu führen.
Das Beste daran: Project Ladder stellt subventionierten Wohnraum zur Verfügung. Jedes Mitglied bekommt eine Wohnung mit Schlafzimmer in den sogenannten Alderbrooke Apartments. Ein Segen für die strauchelnde Marie.
Sie verzichtet darauf, ihren High School-Abschluss zu machen, beginnt stattdessen im Supermarkt zu jobben und lernt innerhalb des Projekts die „Regeln des Lebens”, wie sie im Artikel berichtet:
Es war einfach schön, auf eigenen Beinen zu stehen und nicht tausende Regeln vorgesetzt zu bekommen wie in den Pflegefamilien. Es war Freiheit. Es war super.
Leider sollten die erfreulichen Wendungen, die sich für Marie ergeben hatten, nicht lange andauern.
Marie Adler: Booksmart-Star Kaitlyn Dever als doppeltes Opfer bei Netflix
Zum Dreh- und Angelpunkt der erschütternden True Crime-Story wird in Netflix’ Unbelievable die Protagonistin, einfühlsam verkörpert von Booksmart-Star Kaitlyn Dever.
Die Marie-Darstellerin sprach für die Rolle nicht nur persönlich mit der jungen Frau, sondern zog noch andere Quellen außer dem Artikel hinzu, um das Innenleben des Sexual- und Justizopfers so glaubwürdig wie möglich verkörpern zu können.
„Also, ihre Stimme darin zu hören, war schon genug für mich”, erinnert sich Dever im Interview mit The Hollywood Reporter an die Episode der populären US-Podcastreihe This American Life mit dem Titel Anatomy of Doubt (dt.: Anatomie des Zweifels).
Auch dort nahm man sich der tragischen Geschichte des Teenager-Mädchens an und lieferte O-Töne der echten Marie.
Dever berichtet, man habe sich bei den Vorbereitungen zur Serie mit der echten Marie (im wahren Leben ist Marie nur ihr zweiter Vorname) getroffen. Dabei sei man sehr darauf bedacht gewesen, ihre Privatsphäre zu respektieren, entsinnt sich der junge Hollywoodstar:
Wir haben nicht versucht, eine Kopie von Marie heraufzubeschwören. Und ich habe nicht versucht, ihre Eigenheiten oder ihren Akzent zu kopieren. Für mich ging es wirklich nur darum, ihre Emotionen und ihren Geisteszustand während dieser Zeit herauszuarbeiten und die ganze Sache und mit so viel Respekt wie möglich darzustellen.
Und das gelingt der 22-jährigen Newcomerin auf ganzer Linie mit einer herausragenden wie nuancierten Performance. Dennoch kommt der Zuschauer kaum umhin, sich die reale Biografie der Jugendlichen auszumalen, um ihre Reaktionen und ihren Gefühlszustand in einer solchen Extremsituation nachfühlen zu können.
Der Fall: Im Zweifel gegen das Opfer
Es ist der 11. August 2008: Kurz vor neun an einem Montagmorgen reagieren zwei Polizisten, die Ermittler Seargant Jeffrey Mason and Jerry Rittgarn, aus Lynnwood auf die Meldung einer Vergewaltigung in den Alderbrooke Apartments. Ein paar andere Beamte sind bereits mit einem Spürhund am Tatort.
Marie gibt zu Protokoll, sie sei mitten in der Nacht von einem Mann mit vorgehaltenem Messer geweckt, und dann mit verbundenen Augen gefesselt, geknebelt und vergewaltigt worden. Der Mann habe eine Sturmmaske getragen und ein Kondom benutzt. Marie kann nur wenige Details über den Täter angeben: Ein weißer Mann, grauer Pullover, helle Augen.
Maries Angaben zufolge vergeht der Fremde sich mehrfach an ihr, droht, sie umzubringen, sollte sie Laut geben. Der Täter fotografiert die Tat und sein Opfer in demütigenden Posen, platziert zum Schluss Maries Personalausweis auf ihrem Körper und knipst auch dieses Motiv - eine Art Trophäe für den gestörten Triebtäter.
Nachdem der Vergewaltiger verschwunden ist, kann Marie mit ihren Füßen eine Schere aus einer Schublade holen und sich befreien. Umgehend versucht sie, ihren Freund Jordan anzurufen. Doch der geht nichts ans Telefon. Marie erreicht ihre letzte Pflegemutter Peggy Cunningham, danach ihre Nachbarin, die endlich den Notruf verständigt.
Die Befragungen: Ein Teufelskreis des Misstrauens
Nach den ersten Aussagen unterzieht sich Marie einer Untersuchung im Krankenhaus. Sie erhält Notfallverhütung und Medikamente gegen sexuell übertragbare Krankheiten. Bei der medizinischen Untersuchung werden einige Abschürfungen an Maries Handgelenken und an ihrer Vagina festgestellt.
Im medizinischen Bericht heißt es, Marie habe während der Untersuchung „wach und geistesgegenwärtig” gewirkt und nicht den Eindruck einer „akuten Notlage” erweckt.
Immer wieder stellen die Ermittler Maries Aussagen in Frage, vor allem auch weil das junge traumatisierte Opfer sich durch zunehmende Verunsicherung bei Details in scheinbare Widersprüche verstrickt. Das wiederum lässt die Polizisten noch misstrauischer werden und den Teufelskreis stetig ausarten. Den ausschlaggebenden Wendepunkt bringt schließlich allerdings der Anruf von Maries Pflegemutter Peggy.
Sie unterbreitet den Gesetzeshütern ihre Zweifel darüber, ob Maries Geschichte wirklich so geschehen ist wie behauptet. Ihre Begründung: Auch sie selbst sei ein Missbrauchsopfer und könne Maries scheinbar abgeklärten, ruhigen Umgang mit einer solchen Situation absolut nicht nachvollziehen.
Sie erwarte Reaktionen wie Schock und Hysterie, die Marie bisher nicht in Ansätzen gezeigt habe. Das mache die Geschichte für sie unglaubwürdig.
Ein Opfer wird zur Verdächtigen gemacht
Erneut gehen die Detectives mit Marie ins Gespräch, zweifeln ihre Aussagen an, unterstellen ihr eine große Lüge. Das vermeintliche Motiv: Das vernachlässigte Pflegekind habe sich Aufmerksamkeit und Mitgefühl und die ein oder andere Extrawurst innerhalb des sozialen Projekts versprochen.
Rittgarn und Mason treffen sich ein weiteres Mal mit Marie, konfrontieren sie damit, dass ihre Geschichte und die Beweise angeblich nicht übereinstimmen. Sie sind sich sicher, dass Marie die Geschichte erfunden hat.
Das Vergewaltigungsopfer wird anschließend viele Stunden ununterbrochen verhört. Dabei missachten die Detectives Mason und Rittgarn, beide unerfahren mit Vergewaltigungsdelikten, die allgemeinen Richtlinien, Hinweise und Empfehlungen der Polizei zum Umgang bei der Befragung mit Vergewaltigungsopfern.
Zutiefst verunsichert kommen zeitweilig sogar bei Marie selbst Zweifel auf, ob sie ihre Geschichte möglicherweise nur geträumt haben könnte. Als sich der Teenager schließlich äußert, sie sei „ziemlich sicher”, dass die Tat so geschehen sei wie berichtet, sind die Ermittler sich vollends sicher: Marie ist eine Lügnerin!
Aus einer Mischung aus Selbstzweifeln und Resignation heraus, zieht Marie schließlich ihre Aussage zurück, räumt ein, die Geschichte erfunden zu haben - mit schweren Konsequenzen für sich selbst. Im Gespräch mit ihren Betreuern erklärt Marie später, dass sie ihre Aussage unter Zwang zurückgezogen habe.
Zu dritt suchen sie erneut die Ermittler auf. Marie zieht ihren Widerruf zurück und beteuert, das erste Mal die Wahrheit gesagt zu haben. Die Betreuer warten draußen, während Marie erneut ohne Anwalt Rittgarn anbietet, einen Lügendetektortest zu machen.
„Wenn du nicht gestehst, fliegst du aus deiner Wohnung”
Rittgarn bedient sich dem jungen Mädchen gegenüber einer perfiden Einschüchterungsstrategie: Er beteuert, dass man Marie ins Gefängnis stecken könne, würde sie den Test nicht bestehen. Außerdem sei er selbst in einem solchen Fall bereit, Project Ladder zu empfehlen, Marie vollends aus dem Programm zu schmeißen. Marie knickt ein.
Zurück bei ihren Betreuern, wird sie von ihnen erneut gefragt, ob sie vergewaltigt wurde. „Nein”, sagt Marie.
Die Betreuer verlangen von ihr, vor der kompletten Wohnheim-Gruppe zu gestehen, dass sie die Vergewaltigung nur erfunden hat, dass dort draußen kein Vergewaltiger herumläuft, vor dem man sich fürchten müsse. Andernfalls können sie Marie nicht länger im Projekt unterstützen.
Marie gesteht vor versammelter Mannschaft.
Die Gruppe hat kein Verständnis. Ab sofort wird Marie für ihre Mitmenschen zur Persona non grata und muss sich Unmengen an Vorwürfen und abfälligen Bemerkungen gefallen lassen. In einem News-Beitrag ist die Rede von einer „Frau aus dem Westen Washingtons, die zugegeben haben soll, sich eine Vergewaltigung aus den Fingern gesogen” zu haben.
Marie überquert eine Brücke und denkt an Suizid, wie sie sich in An Unbelievable Story of Rape erinnert:
Es war das einzige Mal in meinem Leben, wo ich wirklich gerne gestorben wäre.
Nur wenige Monate später die nächste böse Überraschung: Marie erhält einen Brief mit der Mitteilung, dass sie sich wegen Falschaussage vor Gericht verantworten muss, was mit bis zu einem Jahr Gefängnisstrafe geahndet werden kann. Das Dokument wurde von Ermittler Mason unterzeichnet.
Marie vor Gericht: Bewährungsstrafe und Gerichtskosten
Wenig später erscheint Marie vor Gericht. Niemand außer ihr Pflichtverteidiger begleitet sie. Man bietet Marie eine gerichtliche Einigung an.
Unter der Bedingung, dass sie psychologische Beratung in Anspruch nehmen und auf Bewährung freigelassen wird und keine weiteren Gesetze mehr bricht, ist das Gericht bereit, von einer Freiheitsstrafe abzusehen. Hinzu kommen für Marie die Verfahrenskosten von 500 US-Dollar.
Marie will das alles hinter sich lassen. Sie nimmt das Angebot an.
Zweieinhalb Jahre später: Marie erhält einen Anruf von der Polizei. Zwei Detectives haben ihren Vergewaltiger gefasst. In seinem Haus wurden Aufnahmen von Marie gefunden. Es sind Bilder, die eindeutig ihre Identität belegen - und das nicht nur wegen des abgelichteten Personalausweises.
Marie ist endgültig rehabilitiert. Erleichterung, Schock und Wut gleichermaßen lassen sie zusammenbrechen. Maries Vorstrafenregister wird gelöscht, sie erhält 500 US-Dollar Rückerstattung der Gerichtskosten. Marie verklagt die Stadt und erhält 150 000 US-Dollar als Wiedergutmachung. Kurz darauf verlässt sie den Bundesstaat.
Heute ist sie verheiratet, hat zwei Kinder und arbeitet als LKW-Fahrerin. Wo genau, das soll nicht an die Öffentlichkeit geraten, genauso wenig wie ihr voller Name.
Die Ermittlerinnen: Einer brutalen Vergewaltigungsserie auf der Spur
Dass die Wahrheit doch noch ans Licht gelangt, verdankt Marie zwei Ermittlerinnen, die neue Maßstäbe in Sachen Ermittlungen setzten.
Stacy Galbraith, in der Netflix-Serie Grace Rasmussen (gespielt von Toni Colette) und Edna Hendershot, in der Serie Karen DuVall (gespielt von Merritt Weaver) ermitteln als leitende Polizistinnen in unterschiedlichen Counties. Sie nehmen Kontakt zueinander auf, als sie auffällige Parallelen zwischen einigen Fällen von Vergewaltigung feststellen.
Bis Ende Januar 2011 haben die Ermittler innerhalb von 15 Monaten insgesamt vier Vergewaltigungen in den Großräumen Seattle und Denver verzeichnet. Der erste Fall trägt sich am 4. Oktober 2009 in Aurora, östlich von Denver zu. Das Opfer: eine 65-jährige Künstlerin.
Einen Monat später fällt eine 59-jährige Witwe aus Westminster einem Vergewaltiger zum Opfer. Im Januar 2011 erfolgt ein Angriff auf eine 26-jährige Studentin der Ingenieurswissenschaften in Golden, etwa 25 Kilometer südwestlich vom vorigen Tatort. Über einen weiteren Fall sind keine ausführlicheren Details bekannt.
Die Ermittlerinnen gehen deutlich anders mit den Vergewaltigungsopfern und den Ermittlungen um als ihre Kollegen in Lynnwood: Gezielte aber einfühlsame Befragungen, Klärung von feinsten Details, die gemeinsame Untersuchung und Begehung der Tatorte.
Stacy Galbraith und Edna Hendershot erkennen ein Muster: Der Täter sucht gezielt nach Frauen, die allein leben, benachteiligt sind, eher als Außenseiter gelten, denen es auch an sozialen Kontakten mangelt. Die Spurensuchen dauert lange und führt vorerst in zahlreiche Sackgassen.
Doch schließlich führt sie ein Hinweis aus der Bevölkerung zu einem verdächtigen Fahrzeug, was in der Nähe von einem der Tatorte gesichtet und von Kameras festgehalten wurde. Es gehört Marc O’Leary, einem 30-jährigen Veteran der Armee, der seit Monaten nicht mehr im Dienst tätig ist.
Der Täter: Vergewaltiger Marc O’Leary als Vorbild für Christopher McCarthy
Anhand eines auffälligen Muttermals, was eines der Opfer an der Wade des Täters entdeckt hatte, wird der Eigenbrötler Marc O’Leary (in der Netflix-Serie Christopher McCarthy) überführt. Der Triebtäter gibt später zu Protokoll, als Kind habe ihn die Star Wars-Szene, in der Jabba der Hutte Prinzessin Leia zu seiner Sexsklavin gemacht habe, zu ersten Vergewaltigungsfantasien inspiriert.
#OnThisDay Army Soldier Marc O’Leary Raped an 18 Year Old Woman in Washington; Three Years Later Arrested in Colorado for Rape & Sentenced to 300 Plus Years (August 11, 2008) #UnbelievableStoryofRape
Gepostet von ID Addict USA am Sonntag, 11. August 2019
Im Bericht gibt O’Leary zu Protokoll, er habe sich gefragt:
Wo landest du mal, wenn du mit fünf Jahren bereits an Handschellen denkst?
Mit zarten acht Jahren sei er das erste Mal in ein Haus eingebrochen. Seitdem sei in ihm ein Monster herangereift, was er nicht mehr habe kontrollieren können.
Seine Opfer verfolgt der damals 30-Jährige über Wochen, spioniert sie aus, findet Stärken und Schwächen heraus, beobachtet sie aus Gebüschen. Akribisch bereitet er sich auf jede einzelne Tat vor, bringt kaum eigene Werkzeuge oder Utensilien mit an die Tatorte, hinterlässt keine Spuren und schickt die Frauen nach der Tat unter die Dusche.
Vorher spielt er mit ihnen über mehrere Stunden sein „Vergewaltigungstheater”, wie er es in An Unbelievable Story of Rape selbst nennt, durch. Die Bettwäsche nimmt er mit nach Hause, ebenso wie die Höschen seiner Opfer - seine Trophäen.
Er schießt unsagbare Bilder von seinen Opfern in erniedrigenden Kostümen, droht mit Mord und damit, die Bilder ins Internet zu stellen.
Im Verborgenen bastelt er mit den Aufnahmen an einer Pornoseite. Später werden die Bilder zusammen mit zahlreichen anderen belastenden Beweisstücken von den Ermittlern in O’Learys Haus in einem Ordner mit dem Titel „Mädchen” auf seinem Computer gefunden. Laut Berichten der FAZ ist die Festplatte O’Learys bis heute noch nicht geknackt, auf der die Polizei noch härteres Material vermutet.
O’Leary hatte bei der Auswahl seiner Opfer nicht nur auf allein lebende Außenseiterinnen gesetzt, sondern darüberhinaus in unterschiedlichen Counties zugeschlagen. So hoffte er, dass die jeweils zuständigen Behörden die Vergewaltigungen als Einzelfälle verbuchen und nicht die Suche nach einem Serientäter einleiten würden.
Das Outcome: 327 Jahre Gefängnis für Marc O’Leary
Im Dezember 2011 wird Marc O’Leary von einem Gericht in Colorado zu 327 Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.
Seine Opfer werden ein Leben lang mit ihren Traumata zu kämpfen haben. Trotz allem, was Marie durchmachen musste, bereut sie nicht, die Vergewaltigung gemeldet zu haben.
„Ich wollte nicht, dass es dieses Mal so läuft wie beim letzten Mal”, sagt Marie, die bereits mit sieben Jahren eine erste Vergewaltigung erlebte, über ihre Erfahrungen im Podcast This American Life: „Ich wollte es unbedingt rauslassen und darüber sprechen.”
Laut Recherchen der An Unbelievable Story of Rape-Autoren ist die Rate der Falschaussagen bei Vergewaltigungsdelikten übrigens schwindend gering. Erhebungen des FBIs zeigen, dass die Polizei jährlich nur rund fünf Prozent aller Vergewaltigungsfälle für unbegründet erklärt.
Die Organisation RAINN (Rape, Abuse & Incest National Network), ihres Zeichens größte US-amerikanische Organisation gegen sexuelle Gewalt und verantwortlich für die US-amerikanische National Sexual Assault Hotline, macht auf noch alarmierendere Zahlen aufmerksam: Nur 230 von 1.000 sexuellen Übergriffen werden im Schnitt der Polizei gemeldet. Drei von vier Vergewaltigungen geschehen also nach wie vor noch im Verborgenen.